CampusGrün Hamburg

Kultur

„Kunst und Kultur sind frei. Sie sind Grundlage unserer offenen, demokratischen Gesellschaft und damit wichtiger Teil unseres Landes, das sich seit seiner Gründung im Herzen Europas nicht nur als Wirtschaftsmacht und Sozialstaat, sondern gerade auch als starker Kulturstaat versteht.“
-Koalitionsvertrag der Großen Koalition, 2018

„Aufgabe der EU ist es, das gemeinsame kulturelle Erbe Europas zu bewahren und die offene, gemeinsame Kultur zu fördern.“
-Bundestagswahlprogramm der GRÜNEN, 2017

„Hier wurde eine Kultur geschaffen, die im Dienste der Politik stehen sollte, wir aber dachten uns eine Kultur (Kunst), die uns ein Mittel sei uns selbst gegenüber der Politik zu verwirklichen.“
-Peter Weiß, Notizbücher 1971-1980

Kultur, das scheint alles und nichts zu sein. Der Kulturbegriff ist so unbestimmt wie kaum ein anderer. Wagen wir den Blick in das Regierungsprogramm der GroKo, aber auch in das Bundestagsprogramm der GRÜNEN, stellt sich umso mehr die Frage was Kultur eigentlich ist. Jeder progressiven Politik muss eine Klärung ihrer Begriffe vorausgehen.

Kultur als Herrschaft von Menschen über die Natur
Im Laufe der Jahrhunderte war der Kulturbegriff immer wieder Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und wurde in den verschiedenen Epochen unterschiedlich verstanden. Der Kulturbegriff ist ursprünglich dem Begriff der Agrikultur, also der Bearbeitung der Umwelt durch den Menschen, entlehnt. Mit dem Umschlag von der Naturbearbeitung zur Naturbeherrschung wurde der Kulturbegriff endgültig gegen die Natur gewendet: Die Kultur sollte die immateriellen und materiellen Fortschritte des menschlichen Handelns und damit die Entfernung des Menschen, der nun immer mehr Gestalter seiner Umwelt wurde, von der Natur bedeuten. Die Beherrschung durch den Menschen ist daher ebenso im ursprünglichen Kulturbegriff angelegt wie die Humanisierung, also die Anpassung der vorgefundenen Umgebung an menschliche Bedürfnisse.

Kultur als Herrschaft von Menschen über Menschen
Während der Neuzeit und noch in die Moderne hinein wurde die Kultur verstärkt als die "überlegene" Lebensweise der gebildeten Oberschichten definiert, die für alle erstrebenswert sei. Durch die gesellschaftlichen Umwälzungen der französischen Revolution und der Industrialisierung wurde der bisherige Kulturdiskurs kritisch gewendet. So machte u.a. Kant am Beispiel von Kriegen im sogenannten „zivilisierten Europa“ deutlich, dass Kultur keine grundsätzlich positive Kategorie sei, da Kultur eben auch Kriege und Unterdrückung hervorbringt. Im Klassenkonflikt zwischen den Arbeiter*innen und dem Kapital zu Zeiten der sozialistischen Massenbewegungen wurde die Vorstellung einer gemeinsamen Kultur endgültig verworfen. Kultur wurde als „Lebensweisen“ in der Arbeiter*innen-Bewegung antagonistisch zur Kultur der Herrschenden vorangetrieben. Erst im faschistischen Europa wurde in weiten Teilen diese Auseinandersetzung eingestellt, um die bürgerliche Kultur gegen die faschistischen Bewegungen zu verteidigen.

Theodor W. Adorno warf in seinem 1949 erschienen Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“ die Frage nach der Legitimation von Kunst und Kultur im Nachkriegsdeutschland nach den Verbrechen des Nationalsozialismus und dem Holocaust auf. Er war der Meinung, dass alle bisherige Kultur misslungen sei, da sie in die Barbarei des Nationalsozialismus führte. Damit schloss er sich der Kulturkritik Kants an und griff vor allem die konservative Kulturkritik an, welche die Kultur als eine Art Wert-Instanz stilisierte. Der Nationalsozialismus habe gezeigt wie gut sich eine als statische und einheitliche verstandene Kultur mit der Barbarei vertrage, sich sogar zu dessen ideologischem Vorhang machen lasse.

In Westdeutschland (wie in anderen kapitalistisch strukturierten Gesellschaften) ist Kultur (in der Formel Kultur = Kunst) trotz aller daran formulierten Kritik wieder Abgrenzungsmechanismus im Sinne Bourdieus: Kulturelles Kapital besitzt, wer bürgerliche Formen der Kultur (Kunst) interpretieren kann. Der Kapitalismus ist, wie Lukács 1923 schreibt, totalitär, so dass Kultur aus marxistischer Sicht keinesfalls als Schutzraum gedacht werden kann: "Die Verwandlung aller Gegenstände in Waren, ihre Quantifizierung zu fetischistischen Tauschwerten ist nicht nur ein intensiver Prozeß, der auf jede Gegenständlichkeitsform des Lebens in dieser Richtung einwirkt [...], sondern zugleich und in einer hiervon unabtrennbaren Weise die extensive Ausbreitung dieser Formen auf das Ganze des gesellschaftlichen Seins." Dabei entwickelt sich die Kultur im Neoliberalismus immer mehr zur Ware der Massenindustrie und schafft so eine Kultur, die alle interpretieren können, aber jeglichen kritischen Kern verloren hat. Letztlich wird "Kultur" als Quelle von Kreativität sogar als Produktionsvoraussetzung gesehen. Unternehmen suchen sich ihre Standorte immer mehr nach den „kulturellen Angeboten“ vor Ort aus, um die Ausbeutung im Lohnarbeitsverhältnis immer weiter zur verschleiern. Adorno und Horkheimer prägten für diese Spezifik des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs den Begriff der "Kulturindustrie". Die Kulturindustrie bietet den Konsument*innen dabei in ihrer Freizeit Amüsement, welches jedoch seiner Form und seinen Inhalten nach genauso automatisiert ist, wie die Arbeit selbst, und alles Erleben des Kunden bzw. Angestellten dessen mechanischen Arbeitsprozess angleicht. Der bis heute hegemoniale, also vorherrschende, Kulturbegriff fasst mit seiner Weite Vieles (Kunst, Folklore, Konsum), bleibt aber im Wesentlichen in der Bedeutung von Kunst und Lebensart als Ware zurück. Diese ungeklärte Kulturdefinition ist im Kapitalismus Position. Sie trägt zur Mythologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse bei, in dem sie alle gesellschaftlichen Konflikte verneint, in dem sie Menschheitsgeschichte lediglich als Kulturgeschichte darstellt und somit vor allem grundsätzliche Kritik am Kapitalismus zu besänftigen versucht.

Kultur für solidarisches menschliches Miteinander
Wie ist aber nun der Kulturbegriff zu fassen? Wir meinen, dass wir einen neuen widerständigen, konfliktorientieren Kulturbegriff benötigen, der an die Kämpfe der Arbeiter*innenbewegung anschließt: Kultur muss sich von der Herrschaftskonnotation lösen und bedeutet die Humanisierung der Verhältnisse zur Befreiung der Gesellschaft für ein menschenwürdiges Leben aller. Kultur durchzieht alle Lebensbereiche und kann als Kunst verdichtet auftreten. Kultur ist in diesem Sinne nur im Singular denkbar, nicht als ein Nebeneinanderstehen verschiedener "Kulturen".

Dabei verstehen wir Kultur gegen das Ökonomische, also gegen etwas unter Werte Subsumiertes (also: darunter gefasst und dadurch untergeordnet), als das den Menschen als Selbstzweck Dienende, das Uninstrumentelle (Wolfgang F. Haug) in allen menschlichen Tätigkeiten. Selbstzweck ist hierbei explizit nicht im Sinne von individueller Selbstbezogenheit zu verstehen, die gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse ausklammert. Sondern er ist als Selbstzweck des Menschen unbedingt als Tätigkeit zu verstehen, die das Menschliche verallgemeinert, also allen zugänglich macht. Im Sinne Wolfgang Fritz Haugs muss dieser humanistische Anspruch, wo von Kultur die Rede ist, unmittelbar mit Genuss einhergehen: Es geht darum, "dem Tun des Notwendigen etwas abzugewinnen für den Augenblick, durch die augenblickliche Beziehung auf die menschlichen Bedürfnisse, auch dieses Tun genießen zu können". Dementsprechend ist Kultur nicht etwa dann instrumentell, wenn sie als Mittel menschlichen Selbstzwecks gedacht wird, sondern nur dann, wenn sie Zwecken dient, die nicht der Verwirklichung der Einheit aus Humanismus und Genuss dienen. Auch andere Bereiche des Lebens können uninstrumentell sein. Arbeit, sofern sie nicht zum Zwecke der Bereicherung einzelner Individuen ausgebeutete wäre, sondern zur Verwirklichung des Allgemeinwohls organisiert, würde Lebensmittel produzieren, die Mittel zur menschlichen Bedürfnisbefriedigung wären. Dabei ist es möglich, dass nicht jeder Moment der Produktion unmittelbaren Genuss bereitet, sondern erst der Moment des Konsums oder nur einzelne Momente des Produktionsprozesses. Eben diese Momente wären dann wiederum kulturelle. Am Beispiel des Kunstwerks wäre dies beispielsweise denkbar durch die gebrochene Darstellung von Utopie, also eine Darstellung von Utopie, die gleichzeitig darstellt, dass diese Utopie eben durch die gegenwätzigen Verhältnisse verhindert wird. Eine Form der Darstellung also, die anders als ein bloß sinnlicher Genuss eines "schönen Bildes" oder eine bloß rationale Mahnung durch einen analysierenden Text den sinnlichen und rationalen Elementen gemeinsam zum Ausdruck verhilft und so die Einheit von (rationalem) Humanismus und (sinnlichem) Genuss herstellt.

Kultur ist der Teil des Reichs der Freiheit (Marx), der schon heute überall realisiert wird: Ob in der gemeinsamen solidarischen Organisierung, dem explizit inklusiv gedachten Breitensport oder der Kunst. Diese Kultur kann nur durch die fortschreitende Entwicklung der Beherrschten und ihrem Ausbruch aus der Subalternität (Unterworfenheit) vorangebracht werden. Insbesondere kann Kultur nicht arbeitsteilig als "Top-Down"-Prozess gedacht werden, der die Subalternen von ihrer Entwicklung ausschließt.

Durch Ökonomisierung der gesellschaftlich der Kunst gewidmeten Institutionen geht das Kulturelle der Kunst verloren. Gerade um die weitere Ökonomisierung und Privatisierung von öffentlichen Kunsteinrichtungen und weiter gefassten Kultureinrichtungen (Theater, Museen, Universitäten usw.) aufzuhalten und eine neue uninstrumentelle Kultur zu erkämpfen, solidarisieren wir uns als CampusGrün mit den Institutionen und im Speziellen mit den Betriebsräten, die 2018 die notdürftige Situation dieser im „Offene[n] Brief - Kulturbetriebe an Hamburger Politik“ anprangerten, im gemeinsamen Kampf gegen die als „Schuldenbremse“ getarnte Fortschrittsbremse als Instrument zur Umsetzung der Austeritätspolitik.

Gerade die geschichtsbewusste Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff, die aktuelle Situation der Sparpolitik und die damit einhergehenden Not der verschiedenen Kultureinrichtungen zeigt, dass Kultur viel weitgreifender ist und sich auch im hochschulpolitischen Rahmen nicht lediglich auf eine „Campus-Kultur“ reduzieren lässt. Wir stellen uns gegen die versuchte Verwertung von Kultur und sehen die wesentliche Bedingung, um eine neue Kultur abseits der Verwertungsideologie zu ermöglichen in einer progressiven Sozialpolitik in der Uni und in der Stadt und damit einhergehend der Verkürzung von (Lohn)-Arbeitszeiten und der Abwendung von der Bachelor/Master-Leistungsquälerei. Politische Aufgabe ist es nicht, Kunst und Kultur spezifische Formen und Inhalte vorzugeben. Auf politischem Wege muss aber dafür Sorge getragen werden, dass Kultur im Sinne menschlichen Selbstzwecks überhaupt erst ermöglicht wird.

Wir verteidigen die Errungenschaft der Studierendenbewegung, dass die Universität Hamburg bis heute ein kritischer Ort mit zahlreichen kulturellen Projekten, Veranstaltungen und Initiativen ist, gegen reaktionäre, antisolidarische, also rechte Versuche, den Campus mit kommerziellen Kino-Veranstaltungen, Campus OpenAirs und Public Viewings von Fifa-Events durchzuökonomisieren.

Gleichzeitig ist es unserer Meinung nach notwendig die bürgerliche Kulturideologie und ihren Wandel weiter zu durchdringen, um die Kritik an ihr weiter voranzubringen. Wir wollen den Konflikt um die Kultur und ihren Begriff im Rahmen von Veranstaltungen als Ausgang von mehr kritischer Aktivität in Uni und Stadt fruchtbar machen.

Zum Thema

Die Feuerzangebowle kritisch sehen! (06. Dezember 2018)